Hallo ihr Lieben, heute gibt es mal wieder eine Buchbesprechung auf Zeilenwanderer und das zu einem ganz besonderen Buch. Leinsee von Anne Reinecke stand sehr lange ungelesen in meinem Regal. Dies lag nicht daran, dass ich keine Lust auf das Buch hatte, sondern, dass ich auf den richtigen Moment dafür gewartet habe. Auf die richtige Stimmung. Wie schon in den Sonntagszeilen der vergangenen Wochen erzählt, habe ich Leinsee im August jeden Abend vor dem Einschlafen gelesen und ich bin froh, dass ich das Buch so gelesen habe. Es ist unglaublich stimmungsgeladen und am Abend hatte ich die Ruhe, die für diesen Roman notwendig ist.
Kurzbeschreibung
In Leinsee treffen wir auf den Künstler Karl. Er ist kaum dreißig Jahre alt und hat sich in den letzten Jahren von seinen Eltern zurückgezogen. Diese sind – genau wie er – bekannte Künstler, die die Szene maßgeblich geprägt haben. Als sich sein Vater umbringt, ist Karl gezwungen, nach Leinsee zurückzukehren. In Leinsee muss er sich seiner Vergangenheit und seiner Zukunft stellen. Dabei trifft er auf das kleine Mädchen Tanja, das ihn wieder zurück ins Leben führt.
Mara lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, musterte die Umgebung und reckte ihr schönes Kinn in die Höhe. »Was soll denn das ganze Zeug da im Baum?«, fragte sie. »Aber das sieht man doch«, sagte die Mutter, und als Mara nur den Kopf schüttelte, zeigte sie auf Tanja.
Meinung
Wo fange ich an? Wenn ihr mich fragt, ist Leinsee ein genreloser Roman. Er hat etwas Skurriles und Melancholisches an sich, und ist gleichzeitig von spielerischer Leichtigkeit gezeichnet. Als Karl auf die junge Tanja trifft, die eines Tages in einem Kirschbaum im Garten auftaucht und ihm beim Entrümpeln beobachtet, setzt dies allerlei in Bewegung und so ist Leinsee eine Schnittstelle sämtlicher Thematiken: Kunst, Liebe, Entwicklung, Trauer, psychologische Aufarbeitung, Erinnerungen an die Kindheit. Hach, Leinsee, du kannst mit ganz vielen Punkten überzeugen!
Außergewöhnliche Figuren & Idee
Dass Anne Reinecke ein unglaubliches Talent für das Schreiben besitzt, zeigt dieses Debüt allemal. Besonders aber in den Charakteren, wie ich finde. Angefangen mit dem Vater, der sich übereifrig im Glauben, dass seine Frau wegen Krebs und einer Operation sterben wird, erhängt. Doof gelaufen, dass seine geliebte Frau den Eingriff überlebt und nun Karl zurück nach Leinsee kommen muss, um sich um die Beerdigung und alles Dazugehörige zu kümmern. Diese Grundsituation fand ich so skurril. Sie ist einerseits von tiefer Trauer, aber dann schon wieder so außergewöhnlich, dass sie komisch ist. Dass man als Autorin auf so eine Idee kommt ist doch der Wahnsinn!
Karl ist ein Protagonist wie ich ihn selten erlebt habe und das liegt ganz klar mit am Ausdruck der Autorin. Durch ihre Wortwahl ist Karl sarkastisch, melancholisch, liebevoll und witzig. Aber wenn es die Umstände wollen, kann er ebenso ernst und verschroben wie gelassen und verspielt sein. Leinsee ist aus der dritten Person Singular verfasst und oft habe ich das Gefühl, das Innenleben von Figuren nur richtig zu erleben, wenn die Geschichte aus der ersten Person Singular berichtet wird. Hier beweist Leinsee mir ganz klar das Gegenteil, denn ich habe nur von wenigen Charakteren gelesen, die mir so vertraut waren wie Karl.
Karl entführt Leser in die Welt der Künstler, was ich als sehr interessant empfand. Musik und Literatur war ich schon immer zugeneigt. Bei Kunst habe ich oft das Gefühl fehl am Platz zu sein und sie nicht zu verstehen. Umso schöner war dieser Einblick in die Welt, die Karl und seine Eltern schon immer prägte.
Eine weitere sehr wichtige Person in Leinsee ist natürlich Tanja. Tanja ist verspielt und erklärt die Welt unverblümt und direkt durch die Augen des Kindes. Dadurch prägt sie Karl maßgeblich. Die Dialoge der zwei haben mir in dem Buch am besten gefallen, da sich die zwei auf eine außergewöhnliche Art ergänzen. So entdecken die beiden beispielsweise eines Tages eine tote Taube, begutachten sie und beschließen dann, sie zu vakuumieren. Irgendwie skurril, aber für die zwei auf schräge Art ganz normal. Tanja hat lauter seltsame Ideen im Kopf – sie ist ja auch erst acht Jahre alt – und dies passt perfekt zu Karls Situation in dem Roman. Denn in diesem Abschnitt seines Lebens hat er das Gefühl, dass eh schon alles vollkommen absurd ist. Tanja ist für ihn eine entscheidende Konstante.
Schreibstil & Gesamtpaket
Leinsee vermittelt dem Leser ein ganz besonderes Gefühl. Es ist fast als befinde man sich in einer Art Paralleluniversum. Alles scheint bekannt zu sein, aber irgendwie wirkt alles auch ganz surreal. Anne Reinecke transportiert eine einzigartige Stimmung und dies zeigt sich nicht nur in der Art, wie sie die Handlung vorantreibt, sondern auch, wie sie Worte einsetzt. Ich weiß nicht weshalb, aber würde ich nicht wissen, dass sie das Buch geschrieben hat, hätte ich gedacht, ein Mann hätte es verfasst. Einerseits schreibt sie sehr emotional, andererseits aber auch sachlich. Wirklich sachlich und in keiner Weise romantisierend. Ich glaube, daran liegt es. Dass Anne Reinecke die Dinge beschreibt, wie sie sind, ohne Euphemismen oder Ähnliches zu benutzen. Der Text ist so roh und die Sätze mitunter sehr kurz – wie Gedanken einer echten Person. Das hat mir ausgesprochen gut gefallen.
Jedes Kapitel trägt als Überschrift eine Farbe, die sich im Kapitel selbst auch wiederfinden lässt. Regentageblau, Kirschviolett, Seidenschalgelb. Die Überschriften haben mir richtig gut gefallen, da ich die Beschreibungen schön finde und weil ich diese Art der Überschriftenvergabe noch nie zuvor gesehen habe. Was ich bei den Kapiteln auch sehr gelungen fand, war ihre Länge. Nicht zu kurz, nicht zu lang. Die Kapitel sind in ihrer Länge angenehm zu lesen. Anne Reinecke ist außerordentlich begabt und ich hoffe sehr, dass sie noch viele weitere Bücher schreibt, die ich bald zu lesen bekomme.
Ein außergewöhnliches Buch. Ich habe die Lesezeit als sehr intensiv wahrgenommen und bin immer noch sprachlos, wie gekonnt Anne Reinecke einen so rohen und vollkommenen Charakter wie Karl mit der Kraft der Worte erschaffen konnte.
Vielen Dank auch an den Diogenes Verlag, der mir freundlicherweise dieses Leseexemplar zur Verfügung gestellt hat.
Eckdaten: Anne Reinecke – Leinsee – Diogenes – 2018 – 368 Seiten – 24,00 €
Comments
Quicktipp | Leinsee – von Sonnen- und Schattenseiten – read. eat. live.
[…] »Ein außergewöhnliches Buch. Ich habe die Lesezeit als sehr intensiv wahrgenommen und bin immer noch sprachlos, wie gekonnt Anne Reinecke einen so rohen und vollkommenen Charakter wie Karl mit der Kraft der Worte erschaffen konnte.« – Zeilenwanderer […]
Zeilentänzerin
Oh, nach dem Lesen deiner Rezension bin ich ganz verliebt in das Buch. Ich habe bisher nur Gutes gehört. Zeilentänzerin
Janika
to Zeilentänzerin
Das freut mich zu hören. Ich kann dir das Buch auch wirklich empfehlen. Es ist etwas ganz Besonderes :)