Die Welt war weiß. Ganz und gar. Weiß und weich und wunderschön. Doch das friedliche Weiß wurde regelmäßig für einen Bruchteil einer Sekunde durchbrochen. Durchbrochen von einem kleinen braunen Fleck. Der kleine Hase Nepomuk war dieser Fleck, denn er hatte an diesem Tag eine ganz besondere Mission. Und er musste sich beeilen, denn er wollte zur Dämmerung wieder zurück im Bau sein.
Der kleine Hase hoppelte an diesem Tag eine weite Strecke und suchte jede Ecke des Waldes ab, die er erreichte. Er schaute hinter Felsen, er suchte zwischen Tannen, er überblickte weite Wiesen mit hohen schneebedeckten Gräsern. Doch einen Murmelbaum entdeckte er nirgends. Also suchte er weiter und weiter. Doch auch nachdem der halbe Tag vergangen war, stieß er auf keinen der seltenen Bäume. Da durchquerten Herr und Frau Elch die Wiese, auf der Nepomuk gerade stand.
»Herr Elch, Frau Elch, habt ihr kurz Zeit und könnt mir helfen?«, fragte er schüchtern? Die Elche blieben sofort stehen, verharrten komplett reglos und guckten mit ihren großen Augen in alle Richtungen. »Hier unten bin ich! Ich bin’s. Nepomuk.«
»Ja mei! Der kleine Nepomuk. Hallo du kleiner Fratz, wie geht es deiner lieben Mutter in diesen bitterkalten Tagen?«, fragte Frau Elch.
»Der geht es sehr gut, danke. Wisst ihr, wo ich einen Murmelbaum finde?« Die Elche starrten wieder nur vor sich hin. »Einen Murmelbaum. Wisst ihr, wo ich einen finde?«
»Was ist ein Murmelbaum?«, fragte Herr Elch flüsternd seine Frau, als wäre es ihm peinlich.
»Keine Ahnung,« flüsterte Frau Elch zurück.
»Das habe ich gehört …«, sagte der kleine Hase. »Ihr könnt mir also nicht helfen? An dem Murmelbaum wachsen kleine Zweige mit noch kleineren weißen Murmeln, die Äste sind in einem hellen Grün gefärbt.« Die Elche guckten mit ihren Augen wieder leer durch die Gegend und bewegten ihre Körper dabei nicht.
»Sag deiner Mutter liebe Grüße von uns beiden!«, sagte Frau Elch plötzlich, als sie aus ihrer Starre erwachte.
»Ja, mach ich«, erwiderte Nepomuk augenrollend und hoppelte davon. »Typisch Elch!«, murmelte er zu sich selbst.
Es verging eine ganze Weile, die Nepomuk weiter vergeblich suchte, als er oben auf einem kahlen Baum die weise Eule entdeckte. Sie hatte noch beide Augen verschlossen und war dick aufgeplustert. Natürlich, denn die Sonne schien noch und die Eule schlief. Aber dennoch, sie musste ihm helfen. Die weise Eule musste einfach wissen, wo ein Murmelbaum wuchs! Sie wusste immerhin alles und konnte mit Sicherheit einen Murmelbaum mit ihren scharfen Augen entdecken. Das war Nepomuks Chance.
»Weise Eule, hörst du mich? Ich habe eine wichtige Frage und brauche deine Hilfe.« Die Eule öffnete ein Auge. »Weise Eule, ich bin auf der Suche nach einem Murmelbaum. Es ist sehr wichtig, weißt du? Ich finde einfach keinen. Kannst du mir sagen, wo ich einen finde? Bitte!«
»Pah!«, rief die Eule. »Für sowas weckst du mich? Siehst du nicht, dass die Sonne noch hoch am Himmel steht? Papperlapapp, wegen solch eines Unsinns lasse ich mich nicht wecken. Komm später wieder.«
»Aber weise Eule, wenn du wach bist, muss ich doch längst im Bau bei meiner Mutter sein, sonst wird sie böse.«
»Ruhe! Ich brauche meinen Frieden. Oder willst du, dass ich dir einen Murmelbaum von oben zeige?« Sie begann mit ihren gefährlichen Krallen gegen den Ast zu klappern und Nepomuk drückte sich ganz fest an den Boden.
»Nein, nein, ein ordentlicher Schlaf ist sehr wichtig. Ruh dich gut aus, weise Eule. Ich finde schon noch einen Murmelbaum.« Die Eule hörte mit dem Krallen-Geklappere auf und schloss genüsslich ihr Auge. Der kleine Hase hoppelte weiter.
Nepomuk lief weiter durch den weiten Wald. Langsam, aber sicher änderte sich die Atmosphäre. Das Gezwitscher der Vögel ließ nach, es wurde dunkler und die Bäume ragten bedrohlich und mächtig in den Himmel empor. Da hielt Nepomuk inne. Er sah ihn. Den, um den er immer versuchte, einen Bogen zu machen. Dem er immer auswich, doch diesmal nicht. Er brauchte dringend einen Zweig des Murmelbaums für morgen Abend und vielleicht könnte er nun Hilfe finden. Also näherte er sich dem Räuber vorsichtig. Ganz vorsichtig.
»Ich muss den Murmelbaum finden,« rief Nepomuk mutig. »Weißt du, wo ich einen finde? Ich brauche nur einen kleinen Zweig! Es ist wirklich wichtig, sonst würde ich dich nicht fragen.«
»Das habe ich mir schon gedacht«, flüsterte der graue Wolf, während er sich langsam umdrehte und sich Nepomuk bedrohlich näherte. »Doch Dinge wie der Murmelbaum bedeuten mir nichts. Ich kann dir nicht helfen.« Er schritt noch näher an den kleinen Hasen heran. »Aber du kannst mir und meinem hungrigen Magen helfen, wenn du möchtest«, knurrte er leise, duckte sich ein wenig und kniff die Augen langsam zusammen.
»Oh, ehm … nein, danke«, druckste der Hase und hüpfte nervös hin und her. Der Wolf lachte leise, drehte sich um und verschwand tiefer in den Wald hinein. Gerade nochmal Glück gehabt! Nepomuk rannte schnell zurück in den helleren Teil des Waldes. Doch auch dieser wurde langsam dunkel und die Sonne neigte sich dem Horizont.
»Verflixt und zugenäht!«, stieß Nepomuk aus und klopfte mit seinen Hinterpfötchen verzweifelt auf den Schnee. »Ich brauch für Selma doch unbedingt einen Zweig des Murmelbaums, sonst würde sie mich niemals küssen.« Doch es war zu spät. Er hatte den ganzen Tag genutzt und den halben Wald durchquert. Wo der seltene Murmelbaum zu finden war, wusste wohl niemand und jetzt müsse er nach Hause. Es war eh schon viel zu spät und seine Mutter pflegte immer zu sagen, dass er vor dem Sonnenuntergang zu Hause sein sollte, denn wenn die Sonne untergeht, beginnt der Tag für die Räuber. Und von denen hatte er heute schon genug gesehen. Er würde schon einen anderen Weg finden, um Selmas Herz zu erobern. Also begab er sich auf den Heimweg.
Er hoppelte und hoppelte und dennoch kam er seinem Bau kaum näher. War er heute wirklich so tief in den Wald gelangt? Er legte an Tempo zu. Als Nepomuk schon alle Hoffnung aufgegeben hatte, rechtzeitig zu Hause anzukommen und die Sonne schon fast vollkommen untergegangen war, entdeckte er etwas. Hinter einer kleinen Tanne lugte ein unverwechselbarer Ast hervor, an dem die großen knollenartigen Gewächse hingen, nach denen er so sehr gesucht hatte! Ein Murmelbaum! Endlich! Er lief sofort zum Baum hinüber und als er unter ihm stand, wurde ihm eine Sache schmerzhaft bewusst. Eine Sache, die er ganz und gar nicht bedacht hatte. Wie sollte er als kleines Häschen in den Baum kommen? Klettern konnte er nicht. Und die Zweige, die er haben wollte, hingen so hoch in den Wipfeln, dass er auch nicht zu ihnen hochspringen konnte. »Oh, das gibt’s doch einfach nicht! Wieso habe ich nicht vorher daran gedacht? Jetzt war alles umsonst!«, rief er verzweifelt aus, schüttelte das kleine Köpfchen und dachte noch einmal daran, dass er schleunigst im Bau sein sollte. Es wurde langsam zu gefährlich im Wald.
Als er gerade loshoppeln wollte, fiel ihm etwas auf den Kopf und landete vor ihm im Schnee. Ein Zweig, aber nicht nur irgendein Zweig. Ein Zweig des Murmelbaums! Er schaute nach oben und sah die weise Eule, die in den Wipfeln saß. »Mein Schnabel ist nicht nur zum Jagen gut, sondern kann auch kleine Äste leicht durchknipsen,« sagte sie.
»Danke, weise Eule! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Danke!«, rief Nepomuk erleichtert aus.
»Ja ja. Ab nach Hause, sonst überlege ich es mir anders und zeige dir, was ich von kleinen Hasen halte, die meinen Schlaf stören.« Er nahm den zarten Zweig vorsichtig in sein Mäulchen, grinste dabei, wie ein kleines Häschen nun einmal in besonders glücklichen Momenten grinst, und flitzte ganz schnell durch den Schnee zurück zu seinem Hasenbau.
Der Writing Friday ist ein Projekt, das von der lieben Read Books and Fall in Love ins Leben gerufen wurde. Momentan gibt es eine besondere Aktion des Writing Fridays, bei der jeden Tag eine neues Türchen in Form eines weihnachtlichen Textes geöffnet wird. Morgen öffnet sich das nächste Türchen bei der lieben Ida. Gestern wurde es bei Annie von Kempenich geöffnet.
Comments
Corly
Huhu, hach, die Geschichte ist ja zuckersüß. Eine schöne Idee. Und so winterlich angehaucht. Sehr schön. LG Corly
Janika
to Corly
Liebe Corly, dankeschön! Das freut mich zu hören :) Alles Liebe, Janika
Elizzy
Liebste Janika, endlich komme ich wieder dazu deinen Blog zu lesen und deine Geschichte ist sooo süss! Und seit dem ich weiss wie du sprichst :D kann ich mir die Geschichte besonders gut von dir vorgelesen vorstellen :D ich freue mich schon bald darauf dich wieder zu sehen :)
Janika
to Elizzy
Liebe Elizzy, juchu, du bist zurück! Das freut mich aber =) Hahaha, das höre ich doch gerne! Ich hoffe, ich habe dir die Geschichte höchst dramatisch und aufregend erzählt =) Ich freue mich auch schon sehr auf das nächste Mal! Alles Liebe, Janika
Norbert
Hallo Janika, wirklich niedliche Tiergeschichte, mit den drei Stationen und der unerwarteten Rolle der Eule am Schluss! Übrigens ist heute mein Beitrag erschienen, wo jedenfalls auch ein Elch vorkommt: https://wordpress.com/post/norbertschimmelpfennig.wordpress.com/176 Liebe Grüße Norbert
Janika
to Norbert
Hallo Norbert, danke für deinen lieben Kommentar. Ich schaue später gerne einmal bei deiner Geschichte vorbei :) Alles Liebe, Janika
Annie von Kempenich
Hallo Janika! Eine sehr niedliche Geschichte hast du da geschrieben! Ich finde den Namen des Hasen wirklich sehr gut gewählt. Die Eule hat es mir angetan, ich mag ja so grummlige Charaktere die im Nachhinein doch sehr lieb sind :D Viele Grüße, Annie
Janika
to Annie von Kempenich
Liebe Annie, herzlichen Dank! Ich finde den Namen Nepomuk auch unglaublich schön. Ich glaube, eines Tages muss ich mal ein Haustier so benennen :) Hihi, grummelige, aber herzensgute Charaktere gefallen mir auch gut! Danke, danke, danke! Alles Liebe, Janika
Sarah von nonsensente
Ach, Nepumuk ist einfach so ein zauberhafter Name und er passt ebenso schön in deine Geschichte. :) Ich finde du hast einen total angenehmen Schreibstil. Es macht wirklich Spaß zu Lesen, was du schreibst. Übrigens: Elche sind meine Lieblingstiere, wenn das nicht schon ein Pluspunkt ist. :D Ganz liebe Grüße
Janika
to Sarah von nonsensente
Hallo Sarah, dankeschön! Ich finde den Namen auch absolut zauberhaft :) Danke, danke, danke!! Das bedeutet mir wirklich viel =) Alles Liebe, Janika
Writing Friday Special: ‘Schneeflocken in der Nacht’ – ida's bookshelf
[…] durften wir das siebte Türchen dieses Adventskalenders öffnen und die bezaubernde Geschichte von Janika lesen, heute öffnet sich auf meinem Blog die achte […]
Katharina
Hey Janika, deine Geschichte ist super niedlich, vor allem auch die Auflösung. Mein Feel-good-Moment des Tages. Bei der Eule musste ich an Archimedes aus "Die Hexe und der Zauberer" denken. Grüße, Katharina von www.kathakritzelt.com
Janika
to Katharina
Liebe Katharina, herzlichen Dank, das freut mich sehr zu hören :) An »Die Hexe und der Zauberer« habe ich gar nicht gedacht, aber den Vergleich finde ich gut und sehr treffend :) Alles Liebe, Janika
Diana
Hallo Janika, eine echt süße Geschichte. Daraus könntest du bestimmt ein schönes Kinderbuch machen. :) Liebe Grüße Diana von lese-welle.de
Janika
to Diana
Liebe Diana, danke, das ist lieb von dir! Es freut mich, dass sie dir gefällt. Hihi, das könnte ich mir tatsächlich auch vorstellen. Allerdings noch mit der ein oder anderen Überarbeitung und auch süßen Illustrationen =) Alles Liebe, Janika
Zeilentänzerin
Wirklich zuckersüß! Irgendwie will man am Ende, dass es weitergeht mit Nepomuk =) Genieß die Zeit bei deiner Familie!
Janika
to Zeilentänzerin
Danke! Vielleicht gibt es ja irgendwann eine Fortsetzung mit Nepomuk! :)
Anna
Liebe Janika, das ist … sooooooo süß, wirklich! Den kleinen Hasen Nepomuk kann ich mir ganz wunderbar in einem Kinderbuch vorstellen. So eine niedliche, verspielte und herzerwärmende Geschichte. Vielen Dank, dass du sie mit uns geteilt hast. Liebe Grüße Anna
Janika
to Anna
Liebe Anna, vielen Dank, ich freue mich, dass dir die Geschichte gefallen hat. Hihi, ich könnte mir das tatsächlich auch gut vorstellen! Alles Liebe, Janika
Buchperlenblog
Liebe Janika! Das war eine wirklich bezaubernde Geschichte. Die beiden Elche haben mich irgendwie in an die beiden Brüder aus Disneys Bärenbrüder erinnert. Inklusive des leeren Blicks! :D Wirklich, ganz ganz ganz bezaubernd ♥ Allerliebste Grüße! Gabriela
Janika
to Buchperlenblog
Liebe Gabriela, vielen Dank für deine lieben Worte! Dein Kommentar macht mich ganz besonders glücklich, denn ich habe beim Schreiben tatsächlich an die Elche aus Disneys Bärenbrüder gedacht! Gerade an der Stelle mit den Elchen war ich mir unsicher und wollte noch mehr Verwirrung reinbringen, hab's dann aber doch gelassen. […] Read MoreLiebe Gabriela, vielen Dank für deine lieben Worte! Dein Kommentar macht mich ganz besonders glücklich, denn ich habe beim Schreiben tatsächlich an die Elche aus Disneys Bärenbrüder gedacht! Gerade an der Stelle mit den Elchen war ich mir unsicher und wollte noch mehr Verwirrung reinbringen, hab's dann aber doch gelassen. Schön, dass dir der Zusammenhang trotzdem aufgefallen ist :) Liebste Grüße, Janika Read Less
Ida
Oh, ist das eine schöne Geschichte - und dann noch mit einem Happy End für den kleinen Nepomuk! :) Im Übrigen finde ich, dass 'Nepomuk' ein echt goldiger Name für ein kleines Häschen ist. :'D Hab ein schönes zweites Adventswochenende! Liebste Grüße, Ida
Janika
to Ida
Liebe Ida, ach, danke! Das freut mich ganz doll zu hören :) Hab du auch ein schönes zweites Adventswochenende und genieß die Zeit :) Alles Liebe, Janika